Zürcher Höhenklinik Wald - Geschichte
Ein Leben für die ZHW oder „es gab keinen Tag, an dem ich nicht gerne in die Höhenklinik ging“
Otto Brändli schreibt: Am 4.9.2012 musste ich aus der Zeitung erfahren, dass der Stiftungsrat der Zürcher Höhenkliniken Wald (ZHW) und Clavadel beschlossen hat, die ZHW nach Uster in eine neue Klinik mit 150 Betten beim dortigen Akutspital zu zügeln. Tief betroffen über diesen unerwarteten Entscheid über „mein Lebenswerk“ versuche ich Rückschau zu halten: Unter dem Eindruck der grassierenden Tuberkuloseepidemie galt Ende des 19.Jahrhunderts der Bau von “Volksheilstätten für Lungenkranke“ als eine wichtige Aufgabe des öffentlichen Gesundheitswesens. Deshalb sammelte ein Initiativ- Komitee in Zürich auf Veranlassung der Gemeinnützigen Gesellschaft des Kantons seit 1884 für ein Baubudget von 510‘000 Franken (inklusive Möblierung; die Totalkosten beliefen sich später auf genau 547‘715 Franken!). Der Kanton steuert „nur“ 60‘000 Franken bei, die Gemeinde Wald 10‘000 Franken und das Versprechen, eine Fahrstrasse auf den Faltigberg zu bauen. Im Jahre 1896 wurde die Stiftung „Zürcher Heilstätten für arme und wenig bemittelte Lungenkranke, in erster Linie Einwohner des Kantons Zürich“ gegründet. 1896 wurde ein Bauerngut am Faltigberg bei Hittenberg für 30‘000 Franken gekauft, 1897 mit dem Bau begonnen und die Klinik genau ein Jahr später dem Betrieb übergeben. Die Eröffnung am 30. Oktober 1898 wurde sogar in der englischen medizinischen Zeitschrift „The Lancet“ erwähnt: „The Sanatorium for Consumptives“ sei das vierte in der Schweiz nach Bern (Heiligenschwendi 1895), Basel (in Davos 1896) und Glarus (Braunwald 1897) und die nötigen 351‘635.30 Franken Baukosten seien als freiwillige Spenden innert 4 Jahren gesammelt worden. Die Bauzeit betrug übrigens trotz langen schwierigen Transportwegen nur 19 Monate, wie die Architekten Jung und Bridler von Winterthur in einem Zeitungsbericht schreiben. Die Standortwahl war lange diskutiert worden. Davos stand zur Diskussion sowie Seelisberg ob Gibswil in der Gemeinde Bäretswil. Die Lage im Kantonsgebiet in „Schwarzwald-ähnlicher Höhe“, das „herrliche Panorama“ und die „grössere Reinheit der Luft“ sowie der finanzielle Beitrag von Wald gaben den Ausschlag. Die Sonnenscheindauer ist in der Tat auf dem Faltigberg praktisch identisch mit derjenigen in Davos, nur gibt es hier viel mehr Niederschläge. Die Tagestaxe für die bei Vollbelegung 88 Patienten betrug je nach Vermögensverhältnissen 2 bis 5 Franken, und wurde meist von den Kranken selber bezahlt. Im ersten Betriebsjahr verstarben nur 3 der insgesamt 239 aufgenommenen Patienten. Die durchschnittliche Gewichtszunahme- das damalige einzige Qualitätskriterium- betrug 4,7 Kilogramm bei einer mittleren „Kurdauer“ von 104 Tagen. Die einzig damals mögliche Behandlung der Tuberkulosekranken bestand aus reichlicher Ernährung und langem Aufenthalt in frischer Luft auf den Balkonen oder während Spaziergängen. 1908 wurde das Kinderhaus mit weiteren 40 Betten eröffnet, welches bis 1965 für Kinder mit Tuberkulose benötigt wurde. Im Jahre 1909 wurde in Wald erstmals ein künstlicher Pneumothorax angelegt, noch ohne Röntgenkontrolle! Erst 1911 erhielt die Klinik eine Röntgeneinrichtung und elektrisches Licht, sowie eine Zentralheizung. 1910 erfolgte der Ankauf des „Sonnenberg“ im Hömel unten in Wald, für weitere 31 TB Kranke“ mit wenig Aussicht auf Heilung“, also als „Sterbeklinik“. Genau hier „auf einer sonnigen, windgeschützten Terrasse in genügender Entfernung von Staub und Rauch des Dorfes Wald“ wohne ich mit meiner Familie an der Hömelstrasse 15 im 1990 erstellten Eigenheim! 1915 verliess der erste Chefarzt Dr. Staub die Klinik und zog vorübergehend nach Davos in ein Sanatorium in Clavadel, obwohl ihm der Bau eines schönen Chefarzthauses versprochen wurde. Sein Nachfolger in Wald Dr. Hermann Müller blieb nur wenige Monate. Angeblich war er zu oft unterwegs in Zürich und operierte zu oft viele Blinddärme ohne guten Grund. Dr. Staub kehrte wieder zurück, in die inzwischen für den Chefarzt erstellte stattliche gelbe „Zürichbergvilla“ oberhalb des heutigen Parkplatzes der Klinik. Wegen zunehmender Platznot wurden 1918 in Clavadel ein zweites Sanatorium und ein grosser Landbesitz zum Preise von 1,5 Millionen angekauft und mit weiteren 125 Betten betrieben. Dr. Staub zügelte zum zweiten Mal nach Davos und an seiner Stelle in Wald wurde Dr. Deiss als 3. Chefarzt gewählt. Die Kliniken benötigten erstmals 1944 kantonale Subventionen zur Deckung des steigenden Betriebsdefizites. Dieses betrug zum Beispiel 1946 bereits 800‘000 Franken, trotz der Reduktion der Zahl der Mahlzeiten für die Patienten von sechs auf vier, mit insgesamt nur noch 3000 Kalorien pro Tag. Das gesamte Stiftungsvermögen schrumpfte dennoch bis im Jahre 1968 auf 118‘000 Franken. Dies alles entnehme ich den mir vorliegenden Jahresberichtskopien, verfasst von insgesamt nur fünf Chefärzten, mich eingeschlossen, während der ersten 100 Jahre ZHW! Nach dem Tode von Dr. Deiss wurde 1940 mein Vorgänger Prof. Eduard Häfliger als 4. Chefarzt in Wald gewählt. Über seine 35 Jahre auf dem Faltigberg habe ich einen separaten Nachruf („mein Vorgänger stirbt“) verfasst. Seine umfassende Bibliothek über Tuberkulose wurde kürzlich Herrn Prof. Condrau, dem Leiter des Instituts für Medizingeschichte, übergeben. Eine Auswahl der Krankengeschichten von Tuberkulosekranken (derjenigen mit dem Anfangsbuchstaben „B“) inklusive die dazugehörigen Röntgenbilder wurden übrigens 2008 auf meinen Wunsch vom Staatsarchiv des Kantons Zürich vor der Vernichtung gerettet. Sie dokumentieren unter anderem die Einführung des Streptomycins und damit den Beginn der Ära der antibiotischen Behandlung der Tuberkulose in Wald im Jahre 1947. Aufgrund der fortlaufend aufgeführten Röntgennummern kann die Zahl der bis 2013 in der ZHW insgesamt behandelten Patienten auf gegen 90‘000 geschätzt werden! Unter Prof. Häfliger wurde die inzwischen in die Jahre gekommene Klinik 1945-1950 mit Gesamtkosten von 5 Mio. Franken ein erstes Mal umfassend saniert und auf 170 Betten erweitert. Die kantonale Volksabstimmung am 26.5.1946 über den Ausbaukredit ergab einen Ja- Stimmenanteil von über 90%! Allerdings erfolgte der Umbau unmittelbar nach dem Weltkrieg wegen Materialmangel als Holzkonstruktion mit Zeitungspapier zwischen den Wänden zur Isolation. Auch das 7- stöckige neue Personalhaus wurde ganz aus Holz gebaut. Die Feuerpolizei bezeichnete die Klinik als Brandobjekte Nr. 1 im Kanton Zürich, gemäss einem Schreiben, dass ich 1977 in meiner Tischschublade fand, und das mir auch die Aufnahme von „bettlägerigen“ Patienten in die Klinik untersagte! Mein Vorgänger hatte den gleichen Brief bereits 1965 dazu benützt, um die vorgesehene Aufnahme von „psychiatrischen Kranken“ in der ZHW zu verhindern, welche ein erhöhtes Brandrisiko bedeutet hätten (damals wurde ja noch überall geraucht!). Lachend erzählte er mir, dass er wegen dieses „Leaks“ vom Gesundheitsdirektor einen Verweis bekommen hätte. Die interne Diskussion über die Weiterführung der damals noch drei Höhenkliniken,in Arosa, Clavadel und Wald, hatte in der Gesundheitsdirektion Zürich bereits 1957 begonnen, weil dank Chemotherapie weniger Betten für Tuberkulosekranke benötigt wurden. Ein Gutachten meines späteren Chefs am Universitätsspital Zürich Prof. Paul Frick empfahl 1969, die Klinik in Wald zur Behandlung nichttuberkulöser Krankheiten weiterzuführen, da „nicht alle TB Patienten die Höhe von Arosa oder Clavadel ertrügen“. Die Klinik Altein in Arosa wurde in der Folge bereits 1978 geschlossen, wie bis heute die meisten der ursprünglich 20 Höhenkliniken in der Schweiz.
Im Mai 1973, kurz vor dem Abflug in die USA zum 2- jährigen Fortbildungsaufenthalt im Bellevue Hospital lud mich mein Vorgänger Prof. Häfliger als Oberarztkandidaten in die ZHW ein. Allerdings zeigte er mir die weitgehend aus Holz gebaute Klinik nicht, sondern nur die schöne Chefarztvilla. Zudem gab es feine Lachsbrötchen aus der Spitalküche! Später fand ich seine Aktennotiz: „Brändli wäre voll und ganz in der Lage, einen Betrieb zu führen“. Er empfahl mich in einem internen Schreiben beim damaligen Stiftungsratspräsidenten Herrn Altorfer. Weiter fand ich meine schriftliche Bewerbung als Chefarzt in den Höhenklinik- Akten und dann das Protokoll der Sitzung des Stiftungsrates vom 25.11.1975 in Wald. Gegen den Mitkandidaten, einen gleichaltrigen Kardiologen, schaffte ich eine einstimmige Wahl, obwohl ich bei der Frage nach meinen Gehaltsvorstellungen ins Stocken geraten und meine damalige Forderung von nur 70‘000 Franken Jahreslohn sicher nicht ganz marktkonform war.
So zügelten wir am 30.12.1976 im tiefsten Schneegestöber mit unserem einjährigen Sohn Silvan von Basel auf den Faltigberg. Die Zügelmänner der Handwerker- Equipe von Ferdinand Roffler bildeten je ein „“Nass- Team“ von der Strasse bis zum Haus und ein „Trocken- Team“ im Inneren des neu um eine Küche erweiterten Chefarzthauses. Kurz war am nächsten Tag die Amtsübergabe durch meinen Vorgänger: im Sturmesschritt eilten wir zusammen über die acht Abteilungen und begrüssten Patienten und Mitarbeitende. Bereits am nächsten Morgen war ich allein verantwortlich. Prof. Häfliger betrat das Haus für viele Jahre nicht mehr. Spannend sind meine damaligen langen Problemlisten heute zu lesen, welche ich bei der Vorbereitung auf meinen Stellenantritt und in den ersten Chefarztjahren abzuarbeiten begann. Der letzte Punkt auf der Liste, der Neubau des in der rohstoffarmen Zeit unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg ganz aus Holz gebauten Personalhochhauses mit 7 Stockwerken, ist auch heute noch pendent! Sehr rasch nach meinem Amtsantritt wurde mir deshalb auch klar, dass die hölzerne TB -Klinik ohne grundlegende Sanierung keine Chancen für die Zukunft als Rehabilitationsklinik hatte. Unter der Ägide von Regierungsrat und Gesundheitsdirektor Wiederkehr wurde der alte Holzbau in 4 Etappen von 1984 bis 1990 unter Aufrechterhaltung des Klinikbetriebs durch einen Eisenbeton- Ständerbau ersetzt. Leider zwang uns Regierungsrat Wiederkehr die Bettenzahl bei 144 zu belassen, bei gleicher Gebäudekubatur wie 1950. Dies zwang zum Einbau von 8 Viererzimmern und von viel zu klein geratenen Zweierzimmern, welche leider den heutigen Ansprüchen auf Privatsphäre nicht mehr genügen, so dass bereits die nächste Sanierungsrunde bevorstehen sollte!
Während eines Ferienaufenthaltes in Rom 1997, zur Verbesserung meiner Italienischkenntnisse, erreichte mich ein Telefonat des Stiftungsratspräsidenten. Ich solle in die Bresche springen, wenn mein frühere Mitarbeiter und damalige Chefarzt Dr. Barandun in Clavadel auf Ende Jahr wegen Meinungsverschiedenheiten in der Klinikleitung freigestellt werde. Im Interesse der beiden Kliniken willigte ich damals am Telefon ein und musste in der Folge zwei Kliniken, Wald und Clavadel gleichzeitig leiten, quasi als „reitender“ Chefarzt, jede Woche 2 Tage in Davos und 3 Tage in Wald. Dies waren sehr anstrengende Monate von Januar bis Juni 1998. In der ZHW hatte ich das grosse Glück, dass nach dem tragischen Ausscheiden durch Suizid meines ersten Verwalters Herr Hunziker, bereits am 1.4.1979 Kurt Walder zum neuen Verwaltungsleiter der ZHW gewählt worden war. Zusammen mit ihm konnten wir die ZHW nicht nur baulich à jour bringen, sondern auch viele weitere Projekte verwirklichen. Eine Neuorientierung der Stiftung und der Klinikleitungen mit der 1999 von Managementberatern empfohlenen Zusammenführung der beiden Höhenkliniken Wald und Clavadel und der Einführung einer Matrix- Organisation forderte leider bald ihre ersten Opfer. Am 14.7.2000 musste Herr Walder aus gesundheitlichen Gründen sein Amt plötzlich und vorzeitig niederlegen. Er und seine Gattin Madeleine verliessen den Faltigberg und zogen nach Winterthur. Dies hatte zur Folge, dass auch ich Ende 2000 nach einer einseitigen Analyse durch Dr. Widmer von der PricewaterhouseCoopers Beratungsfirma aus der Spitalleitung ausscheiden musste. Diese schmerzliche Ruptur bewirkte, dass auch ich mich persönlich neu orientieren musste. Dabei half mir das Zensitzen im Lassalle Haus in Edlibach bei Zug und später regelmässig auch zuhause. In der Folge konzentrierte ich mich vor allem auf mein angestammtes Arbeitsgebiet, die Pneumologie. Bereits ein Jahr später wählten mich meine Chefarztkollegen allerdings wieder zu ihrem Primus inter pares und damit indirekt wieder in die Spitalleitung zurück. Bei den Sitzungen des Stiftungsrats war ich in der Folge als „Senior Consultant“ ohne grossen Einfluss auf die weitere Entwicklung bis zu meiner Pensionierung mit 65 Jahren Ende 2007 noch „geduldet“.
Die ZHW, als im Kantonsgebiet auf 900 Meter Höhe in kühler, sauberer Luft gelegene Spezialklinik mit 140 Betten, hat eine grosse Zukunft als Rehabilitationsklinik für chronische Krankheiten und vielleicht erneut wieder als Quarantänespital für Patienten mit therapieresistenten Infektionen. Wenn schon eine Höhenklinik über die Klinge springen sollte, dann diejenige in Clavadel, welche auf 1600 Metern zu hoch und viel weiter weg und ausserkantonal gelegen ist. 1993 hat der Regierungsrat des Kantons Zürich 47.5 Millionen für die bauliche Erneuerung von Clavadel bewilligt, die zweite Etappe kostete nochmals 20 Millionen, sie wäre also „viel wertvoller“. Der Gedanke, dass die auch unter meinen ärztlichen Nachfolgern bis heute erfolgreich weiter geführte ZHW jetzt vom Faltigberg weg mitten in eine Agglomeration in der Nebelzone verlegt werden sollte, betrübt mich sehr.
Während der Aufarbeitung der Geschichte der in ihrer Weiterexistenz bedrohten Zürcher Höhenklinik Wald ist mir der über 300- seitige Bericht der Ärztin und Dozentin für Medizin- und Sozialgeschichte Victoria Sweet in die Hände gekommen („God’s Hotel- a Doctor, a Hospital, and a Pilgrimage to the Heart of Medicine“ von,Riverhead Books, New York 2012). Sie beschreibt darin die Umwandlung des letzten museumswürdigen Armenspitals (Hôtel-Dieu) von Amerika mit grossen Patientensäälen, des Laguna Honda in San Francisco, zum modernen, effizienten Glaspalast. Sie erlebt im Verlauf ihrer ärztlichen Tätigkeit mit verarmten Chronischkranken, wie die Einführung von elektronischen Krankengeschichten und Datensets sowie die Finanzierung mit Fallpauschalen die Behandlung ihrer Patienten grundlegend verändert hat. Auch sie realisiert wie ich die immer grösser werdende Distanz zwischen den Patienten und ihren Betreuern. Ärzte und Pflegende verbringen immer mehr Zeit vor dem Computer statt am Krankenbett. Gleichzeitig ist sie fasziniert vom komplementärmedizinischen Therapieansatz Hildegards von Bingen vor über 900 Jahren und möchte gerne eine Art „Slow Medicine“ betreiben. Sie gibt die Schuld für die Entmenschlichung der modernen Spitalmedizin dem Verlust an Einfluss der Ärzteschaft und dem Überhandnehmen der Gesundheitsökonomen. Diese eindrücklichen Beobachtungen und Patientengeschichten decken sich mit meinen Eindrücken in den letzten Jahren meiner Tätigkeit in der Höhenklinik Wald. Diese wurde ja auch vor über 100 Jahren zur Behandlung von minderbemittelten, damals ausschliesslich Tuberkulose- Kranken gegründet. Und genau wie für das Laguna Honda in San Francisco wird eine Renovation des ehrwürdigen alten Gebäudes der ZHW auf dem Faltigberg bisher gar nicht erst in Betracht gezogen, sondern ein moderner Neubau in Uster geplant.